Sonntag, 28. April 2024

Archiv


In der Not frißt der Wald Steine

Bodenkunde. - Anfang der achtziger Jahre glaubten viele Experten, dass es mit dem deutschen Wald zu Ende ginge. Wissenschaftler warnten vor dem sauren Regen, der zu einem Waldsterben unbekannten Ausmaßes führen könnte. Heute gehen viele davon aus, dass wir Menschen den Wald gerettet haben: durch Filter in Kraftwerken und Katalysatoren im Auto. Seit neuestem wissen die Forstexperten: dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Vor allem hat der Wald sich selbst gerettet. Er hat sich die Nährstoffe, die die Säure aus dem Waldboden entfernt hat, woanders besorgt: Aus Felsen und Steinen. Wie das abläuft, haben Bodenforscher aus Freiburg nun zeigen können.

von Michael Lange | 19.12.2003
    Ein Wald braucht nicht nur Licht, Luft und Wasser. Er braucht auch Nährstoffe, und die zieht er mit seinen Wurzeln aus dem Waldboden. Besonders wichtig ist das Magnesium. Die Bäume brauchen es zum Aufbau des grünen Blattfarbstoffs Chlorophyll.
    Anfang der achtziger Jahre erkannten Bodenkundler, dass Nährstoffe – insbesondere das Magnesium – durch den sauren Regen regelrecht aus dem Waldboden gewaschen werden. Ihre Prognose: Der Wald kann sich nicht mehr richtig ernähren, er wird sterben. Das Waldsterben blieb allerdings aus, obwohl die Säurebelastung vor allem durch den wachsenden Straßenverkehr kaum gesunken und immer noch viel zu hoch ist. Das Holzwachstum hat sogar zugelegt.
    Fachleute, wie Ernst Hildebrand vom Institut für Bodenkunde und Waldernährung der Universität Freiburg, fragten sich lange Zeit, warum der Wald überlebt hat.

    Es war immer so, dass wir aus bodenchemischer Sicht sagen mußten: Die Böden sind am Ende: Die haben praktisch keine Nährelement-Reserven mehr. Aber die Bäume wachsen gut. Und es ist klar, dass dann irgendwann die Forstleute sagen: Was interessieren mich eure bodenchemischen Befunde. Ich guck auf die Bäume. Wir mußten einfach eine Erklärung finden: Woher nehmen die Bäume ihre Nährelemente?

    Die Lösung fanden die Bodenkundler aus Freiburg gemeinsam mit Pilzexperten der Universität Wageningen in den Niederlanden. Sie untersuchten einen Teil des Waldbodens, den Bodenkundler normalerweise außer Acht lassen: Die Steine.
    Und sie fanden: eine regelrechte Vorratskammer für die Bäume.

    Die Bäume leben nicht vom Boden allein – also vom Feinboden. Sie sind offensichtlich auch in der Lage, mit Hilfe symbiontisch vergesellschafteter Pilze, den so genannten Mykorrhiza-Pilzen, die Steine zu erschließen.

    Steine und Felsen stecken in der Tat voller Nährsalze. Aber für Pflanzen ist diese Nahrung nicht verfügbar. Die Wurzeln kommen im harten Stein einfach nicht an die Salze heran. Das aber können einige Pilze. Die niederländischen Forscher tauften sie: rock eating fungi – felsfressende Pilze.
    Sie dringen in feinste Risse und Fisuren vor und lösen die Nährstoffe aus dem Stein heraus. Die Freiburger Bodenforscher um Ernst Hildebrand haben diese Steinfresser nun erstmals sichtbar gemacht.

    In diesen Fisuren und Rissen finden wir so genannte Hyphen. Das sind hauchdünne Pilzfäden, die dünner sind als das menschliche Haar. Und diese Hyphen können Nährelemente direkt aus den Steinen aufnehmen.

    Was dann passiert, war den Baumexperten bereits bekannt. Im Waldboden findet ein reger Tauschhandel statt. Die Bäume bieten den Pilzen organische Verbindungen, die sie durch Photosynthese in den Blättern herstellen. Die Pilze liefern den Bäumen die aus dem Stein gelösten Nährsalze. So besorgt sich der Baum sein Magnesium, auch dann, wenn der Boden zu sauer ist.

    Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten, ob das schon immer so war, oder ob das eine Anpassungsreaktion des Waldökosystems an die extrem nährlelementarmen Bedingungen im Feinboden ist.

    Jedenfalls haben die Bäume so mit Hilfe der Pilze und der Steine den sauren Regen und damit das Waldsterben überlebt, und sie überleben die Belastungen durch Abgase und Säuren bis heute. Der Wald hält mehr aus, als die Forstexperten früher glaubten. Aber auch das hat seine Grenzen.